Von Bärbel Flad

 

Lieber Hinrich, liebe Jury, liebe Freunde und Kollegen aus der Bücherwelt,

Dir, lieber Hinrich, danke ich  für Deine Worte und der Jury und allen Beteiligten für ihre Entscheidung. Die Übersetzerbarke ist für mich eine wunderbare Bestätigung meiner langjährigen beruflichen Arbeit, und dieses Bild von Enrico Calderoni  „Nuatatrice chi traduce l’ombra“ – „Schwimmerin, den Schatten übersetzend“ passt ganz wunderbar in mein Arbeitszimmer. Ich weiß schon, wie sehr sich mein Mann freut, einen Haken dafür in die Stahlbetonwand zu bohren.

„Warum bist du eigentlich nicht Übersetzerin geworden“, bin ich oft gefragt worden. Die Antwort ist: Ich war und bin noch immer leidenschaftlich Lektorin. Und außerdem hätte ich dann ja auch nicht die Barke bekommen.

Niemals möchte ich missen, wie plötzlich die Fingerspitzen beim Lesen kribbeln, wenn man ein Manuskript vor sich hat, von dem man glaubt, es könnte auch ein tolles deutsches Buch daraus werden. Nie werde ich vergessen, wie ich zum ersten Mal ein Originalmanuskript von Don DeLillo las – ganz unspektakulär am Schreibtisch oder eine Übersetzung von Garcia Márquez zu Hause im Garten, einen Roman von Le Clezio im Zug von Paris nach Köln, meinen ersten Pennac bei Grippe im Bett, um nur einige zu nennen. Schnell taucht dann die Frage auf, wer könnte dieses Buch übersetzen. Und im Kopf entsteht die Liste all der Übersetzerinnen und Übersetzer, die ich kenne oder als Übersetzer kennenlernen möchte.  Aber vorher muss ich natürlich erst einmal den Verleger, die Kollegen im Verlag von der Qualität meiner Trouvaille überzeugen.

Die Entstehung eines Buches ist  wie das Heranwachsen eines Kindes. Aufgeregt verfolgt man die ersten Reaktionen, wie das „Kind“ gedeiht, ist glücklich oder enttäuscht über Kommentare der Außenwelt. Man wird nachts aus dem Schlaf gerissen, weil ein Termin zu platzen droht oder  einem plötzlich  eine Formulierung einfällt. Die „Pubertät“ ist vielleicht nicht ganz so heftig wie bei heranwachsenden Söhnen, aber unerfreuliche Spannungen von allen Seiten sind nicht auszuschließen. – Ich sage nur Verhandlungen mit Übersetzern über Honorare oder denke an die Diskussionen mit den Kollegen über einen angeblich schönen Schutzumschlag, der nichts mit dem Inhalt des Buches zu tun hat, oder die Wahl eines Buchtitels, der völlig daneben ist. Und dann  schließlich die glückliche Erleichterung, wenn das „Kind“ den Schreibtisch und das Haus bzw. den Verlag verlässt und am Ende des Prozesses,  nach Druckerschwärze duftend,  als fertiges Buch vor mir auf dem Schreibtisch liegt. Es bleibt die Spannung, was wohl aus ihm wird, wenn es in die Welt hinausgeht, auf den Markt: Unser aller Erfolg, wie es im  Verlag  dann heißen wird, bestsellerverdächtig und von der Kritik gefeiert, oder der Flop von der Flad.

Das alles habe ich natürlich noch nicht gewusst, als ich anno 1960 eine Lehre als Verlagsbuchhändlerin bei Kiepenheuer & Witsch begann, um das Metier von der Pike auf zu lernen. Ich war der „Stift“, wie man damals noch sagte, den Joseph Caspar Witsch zum Zigarettenholen schickte, aber ich bekam auch über die Ausbildung in Herstellung, Presse und Vertrieb hinaus bald schnell die Chance, im Lektorat mitzuarbeiten. Meine Vorgängerin im ausländischen Lektorat, Alexandra von Miquel, hat wohl meine schlummernden Talente entdeckt und mich – tollkühn würde ich heute sagen – auf Übersetzungsmanuskripte losgelassen. Learning by doing. Ich lernte meine ersten Übersetzer kennen, meist sehr freundliche ältere Herren. In dieser frühen Zeit wurde eine entscheidende Weiche gestellt – der Schwerpunkt meiner Arbeit würde bei der übersetzten Literatur liegen.  Auch während meiner Zeit an der Uni und  in familienbedingten Pausen hatte ich immer, Gutachten schreibend und redigierend, einen Fuß in der Verlagstür. Und ich bin dann, was ja inzwischen ungewöhnlich ist, dem Verlag und seinen Autoren, mit denen ich oft auf Lesereisen durchs Land gezogen bin, mein ganzes Arbeitsleben treu geblieben.

Besonders wichtig war mir immer das Redigieren der fertigen Übersetzungen. Es hat mir riesigen Spaß gemacht und macht es noch immer, mich intensiv mit einem übersetzten Text zu beschäftigen, gute Texte noch zu verbessern. Denn eine gute Übersetzung reizt zum Feilen. Wenn man allein oder wenn Lektorin und Übersetzer gemeinsam über einem Text brüten, sich mit Schachtelsätzen herumquälen, fette falsche Freunde finden, sich  am Telefon oder im Idealfall an einem Schreibtisch in Köln oder Berlin oder München über Formulierungen kreativ streiten, wenn beim Diskutieren ein Wort das andere gibt und zu einem Wortspiel wird, dann entsteht sehr oft Nähe, ja Freundschaft  – das kann nur der nachempfinden, der es erlebt hat.  Und wenn beide Seiten auch manchmal  berufspolitisch konträre Meinungen vertraten  - ich sie vertreten musste -, so glaube ich doch, dass jeder seiner Rolle professionell  auf eine Weise gerecht werden konnte, dass er den anderen nicht persönlich verletzte. -  Als Beispiel für die Freunde, die ich durch die Freude an der gemeinsamen Arbeit und entspannende  Gespräche nicht nur übers Übersetzen, sondern über  Partner, Kochtopf, Kinder gewonnen habe, möchte ich unter denen, die heute hier sind oder nicht hier sind, nur eine nennen, die nicht hier ist. Meine Freundin Ray-Güde Mertin. Sie ist im Januar 2007 gestorben.

Bei meiner Berufswahl war mir von Anfang an klar, dass ich nicht Lehrerin werden wollte. Durch die Hintertür bin ich es dann doch noch geworden und zwar zu meiner eigenen Überraschung mit Begeisterung und wohltuendem Feedback. Ob nun als Lehrbeauftragte beim Studiengang Literaturübersetzen an der Uni Düsseldorf oder vor allem in den letzten Jahren bei den Seminaren des DÜF im Europäischen Übersetzerkollegium in Straelen. Ich finde es toll, dass ich die Chance habe, meine Barke nicht nur durch die Wellen der Verlagswelt zu steuern,  sondern auch kräftig  in erfrischenden Seminaren mit einer hoch motivierten Gruppe und mit meiner Mitnavigatorin zu rudern.

Ich bin nicht nur öfter gefragt worden, warum ich nicht Übersetzerin geworden bin, sondern auch warum ich so regelmäßig zu den Jahrestagungen des VdÜ  früher nach Bergneustadt und jetzt nach Wolfenbüttel komme. Erst mal finde ich, dass das für eine Lektorin eine äußerst nützliche Unternehmung ist – wann hat man schon so viele Übersetzer unter optimalen Bedingungen zusammen? Es ist auch die Chance, viele zu treffen, deren Namen und Publikationen ich nur durch die von ihnen übersetzten Bücher oder durch meine Juryarbeit für den Helmut M. Braem-Preis kenne.  Und dann, man weiß ja,  feiere ich gern, vor allem mit Freunden. Mein Vorgänger Burkhard Müller hat in seiner Dankesrede im vergangenen Jahr gesagt, was für angenehme Menschen Übersetzer sind,  frei vor allem von Arroganz. Für mich gilt das auch immer im Vergleich zu manchen Verlagsleuten, Journalisten, Agenten. Übersetzer sind, abgesehen von ihrer großen  Kompetenz  - die gelegentliche Larmoyanz zählt jetzt nicht  - außerdem nicht so hektisch, nicht so geschäftstüchtig, nicht so blasiert und deshalb besonders sympathisch. Und bei sympathischen Menschen gehe ich mit meiner Barke besonders gern an Land. Es verbindet auch das Gefühl,  trotz großer und erfolgreicher Schufterei nicht genügend wahrgenommen zu werden – und nicht angemessen honoriert. Aber an der Änderung der Verhältnisse arbeitet Ihr ja, und dafür wünsche ich Euch allen nur denkbaren Erfolg.

Wie ein Kollege mal so charmant sagte, bin ich nicht mehr im operativen Geschäft. Irgendwann geht man eben in Rente. Das ist schon schmerzhaft, aber  ich bin  nicht aus der Welt, wie es so schön heißt, und bin nun - ohne Stress - immer noch ein bisschen dabei. Und das verdanke ich auch Euch.

 

Frankfurter Buchmesse, 9. Oktober 2013