Von Burkhard Müller

 

Wenn ich heute zu Ihnen spreche, um mich für die Auszeichnung zu bedanken, die Sie mir zuerkannt haben, so brauche ich, glaube ich, niemanden hier im Raum davon zu überzeugen, wie wichtig Übersetzungen sind. Darum möchte ich Sie nur kurz daran erinnern, was wir alle ohnehin wissen: dass wir, gäbe es keine Übersetzungen, im Zustand der literarischen Unschuld verharren müssten, indem wir außer dem Hier und Jetzt der eigenen Gegenwart nichts mitbekämen von den vielen anderen Sprachen und Zeiten , in denen auch gedacht, gedichtet und geschrieben worden ist; dass übersetzen nicht heißt, Wasser aus einem Gefäß ein anderes umzugießen, sondern vielmehr immer einen kritischen Akt des Übergangs in ein anderes Leben bedeutet, vergleichbar einer Geburt (wobei es denn freilich leichtere und schwerere Geburten gibt); dass Übersetzen zwar ein Handwerk hat, aber eine Kunst ist, vergleichbar der eines Arztes oder Architekten, keine freie Kunst, aber eine desto unentbehrlichere. Hinzufügen möchte ich noch, was für ein schöner Einfall es mir scheint, dass Sie die Figur nicht etwa bloß einer prosaischen Fähre verleihen, die den Verkehr zwischen Küste A und Küste B besorgt, sondern einer Barke, ein Wort, in dem Nacht, Gefahr und Rettung anklingen, bei dem man das Ruder tief eintauchen sieht und die Flut sozusagen bis dicht an die Reling geht.

Die Arbeit des Übersetzers ist an sich schon mühsam und riskant genug. Umso wichtiger ist es, dass er sie in einem Umfeld verrichten kann, das es ihm leicht macht. Wer hier tätige Hilfe leistet, der ist unbedingt preiswürdig – so verstehe ich den Sinn der Barke. Sie haben sich diesmal entschieden, die Auszeichnung einen Literaturkritiker zu überreichen, und darum möchte ich etwas dazu sagen, was meiner Meinung nach die Literaturkritik auf diesem Gebiet tun kann.

Die Aufgabe von Kritik ist es ja allgemein, eine normierte Öffentlichkeit zu schaffen, ein Forum, auf dem alles verhandelt wird, was in der jeweiligen Branche passiert. Kein Bereich der Literatur braucht dieses Forum dringender als die Übersetzung. Denn dass ein neues Buch herauskommt, stellt eine ziemlich unmissverständliche Tatsache dar, auch wenn es vielleicht noch nicht die Beachtung gefunden hat, die ihm zukommt. Dass aber zwischen dem englischen, chinesischen oder albanischen Autor und dem Leser eine Vermittlung statthat, eine Instanz steht, die das Werk insgesamt von Grund auf verwandelt und aus deren Hand erst er es zur Gänze entgegennimmt, dafür muss das Bewusstsein immer neu geschärft werden. Der Kritiker sollte hier die Stimmung einer gewissen Grund-Dankbarkeit dafür zu begünstigen suchen, dass es so etwas wie Übersetzer überhaupt gibt. Beim beengten Raum, den er für seine Besprechungen zur Verfügung hat, wird er diesen Dank nicht immer in vollem Umfang abstatten können; aber selbst wenn es nur zu einem der berüchtigten Adjektive langt – X in der wunderbaren, stilsicheren, lebendigen Übersetzung von Y, sie kennen diese Floskeln -, sollte man doch spüren, wie er sozusagen aus der Ferne den Hut zieht, um mindestens im allgemeinen seine Achtung zu bezeugen.

Darüber hinaus muss der Kritiker spezifisch werden. Keine Arbeit, die gut gemacht ist, sollte unbemerkt bleiben. Bleibt sie es doch, wird sie auf die Länge aufhören, gut zu sein; denn es kränkt den, der sie verrichtet. Wo denn sonst könnte sich ein Suchscheinwerfer auf die Übersetzung richten als in der Kritik? Nur was beleuchtet wird, ist der Reflexion fähig. Dabei sollte man, was deutlich schwerer ist, mehr das Gelungene loben als das Missratene tadeln. Auch so lässt sich für gewisse Standards sorgen, die nicht mehr sanktionsfrei unterschritten werden können. Natürlich geschieht das alles viel zu selten und unregelmäßig. Aber eine gewisse Besserung scheint da in den letzten Jahren schon eingetreten zu sein – wie ja auch, wenn nicht alle Zeichen trügen, die Qualität der Übersetzungen in den vergangenen Jahrzehnten im Großen und Ganzen kontinuierlich angestiegen ist. Beides, die Qualität der Übersetzung und der Grad der Aufmerksamkeit, die sie erfährt, scheint doch irgendwie zusammenzuhängen.

Ein Kritiker, der sich noch mit etwas anderem als mit den Neuerscheinungen der deutschen Gegenwartsliteratur beschäftigt, sollte nach Gelegenheiten Ausschau halten, sich grundsätzlich und genau mit einer einzlnen wichtigen Übersetzung zu befassen. Es wird immer wieder Fälle geben, bei denen allein die Arbeit des Übersetzers darüber entscheidet, ob ein altes Werk für den zeitgenössischen deutschen Leser wirklich zu existieren vermag; ich denke etwa an Ausgaben von Dante, dem Gilgamesh-Epos, Petrarca, den Epen Homers, ja selbst Shakespeare, der sich in der großen Schlegel-Tieck-Edition allmählich zu verdunkeln beginnt und nach neuen Lösungen ruft.

Glücklich darf sich ein Kritiker schätzen, wenn er von Zeit zu Zeit eine reine Übersetzungskritik anfertigen kann. Das fordert immer viel Platz; und ich möchte hier nicht versäumen, auch meiner Zeitung, der Süddeutschen, zu danken, die mir diesen Platz immer wieder eingeräumt hat. Am aufschlussreichsten erweist sich stets der Übersetzungsvergleich. Nicht dazu dient er, Gold- Silber- und Bronzemedaillen zu verteilen, sondern einmal genau im Detail zu zeigen, wie reich das fremde Werk an Facetten und Tiefen ist und wie reich die eigene Sprache an Möglichkeiten, darauf zu reagieren. Nur selten sind Übersetzungen ganz schlecht, und ihre konkreten sachlichen Fehler sind das, was sich am leichtesten beheben lässt. Darauf sollte man nicht zu sehr herumreiten, das sind billige Triumphe. Übersetzungen interpretieren den Text, und zwar nicht in der schwammigen Art des Besinnungsaufsatzes mit Einerseits und Andererseits und Außerdem, sondern indem sie in jedem Fall, bei jedem einzelnen Wort eine Entscheidung treffen; zum Schluss muss genau eine Karte gespielt werden.

Übersetzungen leisten immer noch bedeutend mehr, als das fremde Buch für den Hausgebrauch zugänglich zu machen. Indem sie sich mit der konkreten Manifestation eines anderen Idioms auseinandersetzen und sich mit ihr Satz für Satz in den Clinch begeben, holen sie immer auch etwas von den Ausdrucksmöglichkeiten dieses Anderen ins Eigene herüber. Zum Beispiel können das Altgriechische, das Englische und das Lateinische noch viel mehr Dinge mit dem Partizip des Verbs anstellen als das Deutsche. Mit welcher Leichtigkeit federn die langen Sätze von Pynchon und Updike dahin! Da kann man sich Nützliches abgucken. Was ist beim je gefundenen deutschen Äquivalent als kühn zu begrüßen, was als tollkühn zurückzuweisen? Auch hier liegt ein weites und noch weithin unbestelltes Feld für das fruchtbare Handgemenge von Übersetzung und Kritik. Gemeinsam könnten sie der deutschen Sprache behilflich sein, über das Schmoren im eigenen Saft hinauszugelangen, dieses Lieblingslaster der Sprachpflege. Hierzulande beklagt man ja gern die Überfremdung (und meint doch meist bloß den Wortschatz). Es käme aber darauf an, in einer großmütig-beschwingten Praxis neue syntaktische Wege zu beschreiten. Zuletzt ist es immer die Syntax, die zählt.

Ich möchte meine Barkarole nicht beenden, ohne gesagt zu haben, als wie angenehm ich immer die Gegenwart von Übersetzern empfunden habe. Sie hätten ja ziemlich viel Grund zu schlechter Laune; und waren doch fast stets, wenn  ich sie traf, heiter, eine freundliche, aufgeschlossene Sorte von Menschen und, was sich im Biotop der Literatur mitnichten von selbst versteht, völlig frei von Arroganz.

 

Frankfurter Buchmesse, 10. Oktober 2012