Die Schwedisch-Übersetzerin Verena Reichel ist nach tapferem Aufbäumen gegen eine lange, schwere Krankheit am 9. Februar in München gestorben. Ihr Name ist untrennbar verbunden mit dem Boom schwedischer – und in deren Kielwasser der übrigen skandinavischen – Literatur in Deutschland seit der Mitte der 1980er Jahre. Als Übersetzerin insbesondere von Lars Gustafsson, Torgny Lindgren, Märta Tikkanen, Per Olov Enquist, P.C.Jersild und Katarina Frostenson, aber auch als Scout und Gutachterin hat sie diesen Boom mit herbeigeführt und nachhaltig mitgeprägt.

Verena Reichel (Foto: privat)

Verena Reichel (Foto: privat)

Durch ihre Biografie war Verena Reichel prädestiniert für eine solche Vermittlerrolle. In dem autobiografischen Essay „Die Landschaft meiner Kindheit“ (Der Übersetzer, 1987, Nr. 11-12) hat sie geschildert, wie sie zu ihrer schwedischen Muttersprache und später zu ihrer deutschen Vatersprache kam. Als schwedische Staatsangehörige konnte ihre Mutter in den letzten Kriegsmonaten Deutschland mit den Bernadotte-Bussen verlassen und in Stockholm bei einer Schwester unterkommen. Hier verbringt das „auf der Flucht“ geborene Kind die ersten vier Jahre seines Lebens und spricht ausschließlich Schwedisch, „für mich die Sprache der Verbundenheit und Zärtlichkeit, aber auch die der Wut und der Angst […], die Sprache der ursprünglichen Gefühle“.

Erst mit der Rückkehr des Vaters aus der Kriegsgefangenschaft und der anschließenden Umsiedlung der Familie nach Süddeutschland tritt die deutsche Sprache ins Bewusstsein des Kindes, mit Folgen, die man als Außenstehender wohl traumatisch nennen darf. Verena Reichel drückt dies so aus: „Ich stelle mir vor, dass die Begegnung mit der neuen Sprache zuerst bedrohlich und verletzend war. […] Alles, was bisher sicher und selbstverständlich schien, wurde in Frage gestellt. Ich denke mir, es muss für mich lebenswichtig gewesen sein, möglichst rasch die Sprache meines Vaters zu erobern.“

Ist es Zufall, dass die Erwachsene, die dies schreibt, mit dem Wort ‚erobern‘ zu einer Metapher des Kampfes greift? Zweifellos ging das Kind Verena durch eine harte Schule bei dem „passionierten Lehrer, … der die Sprache liebte.[…] Er hat mich unermüdlich und leidenschaftlich gerügt, wenn ich seine Sprache nachlässig behandelte. Er zog das ‚Ohnehin‘ dem ‚Sowieso‘ vor …“.

Dergestalt sensibilisiert für die Sprache findet die junge Journalistin zum Übersetzen und spürt, dass dies ein Ort ist, an dem sie heimisch werden kann, in einem „‚Zustand zwischen den Zuständen‘ […] zwischen zwei Ländern, zwei Sprachen, zwei Arten, zu denken und zu fühlen. Jede Wendung, die es gelingt zu übersetzen, ist ein Sieg über die Trennung“. Wieder so eine Kampf-Metapher, die auf die Intensität des inneren Dramas schließen lässt. Und das Übersetzen war für Verena Reichel, so habe ich es immer empfunden, vor allem anderen eine emotionale, eine Herzensangelegenheit, weit höher einzustufen als lediglich eine, wenn auch mit Liebe zur Sache betriebene, berufliche Tätigkeit.

Durch die Qualität ihrer in der Regel sehr treuen Übersetzungen und den schieren Umfang ihres übersetzerischen Werks wurde Verena Reichel zur anerkannten Autorität in Sachen schwedische (und skandinavische) Literatur. Sie nahm damit eine Position ein, nach der sie sich nie gedrängt hatte, die ihr aber auf nahezu natürliche Weise zukam. Dabei war sie bescheiden und zurückhaltend, doch nicht schüchtern. Ihre Kompetenz brachte sie sachlich und selbstbewusst, zuweilen hartnäckig zur Geltung. Ihre Diskussionsbeiträge auf Tagungen waren nie ausufernd, sondern führten stets auf kurzem Weg zum Punkt. Ohne eitel zu wirken, hatte Verena die Aura einer Grande Dame, nicht kumpelhaft, doch nie herablassend; als Kollegin war sie kooperativ und hilfsbereit.

Manches war unter ihrer Würde, und das gab sie auch unumwunden zu erkennen. Über Kriminalromane, die maßgeblich an dem Boom skandinavischer Literatur in Deutschland beteiligt waren, konnte sie die Nase rümpfen und hielt sich als Übersetzerin nach Möglichkeit von ihnen fern. Einen Band Lyrik zu übersetzen lag ihr mehr am Herzen und passte auch besser zu ihr. Bei Henning Mankell hielt sie sich an den literarischeren Teil seines Oeuvres.

Ich erinnere mich, dass wir gelegentlich telefonierten, vor der Zeit der e-Mails, und einander um Rat fragten, wenn wir es mit einem Sujet zu tun hatten, dessen Terminologie uns nicht geläufig war. Dann tauschten wir. Alken Bruns und ich lieferten Vokabeln und Erklärungen aus dem maritimen Bereich; Verena zeigte sich mit Erläuterungen zur Herrnhuter Brüdergemeine erkenntlich, als ich P. O. Enquists „Lewis Reise“ übersetzte. Wir sprachen damals ausführlich über den Begriff Gottesacker, mit dem das Buch beginnt.

Umso mehr rührt es mich an, wenn ich jetzt ihrer Todesanzeige entnehme, dass sie ‚auf dem Gottesacker‘ der Ev. Brüdergemeine in Königsfeld im Schwarzwald beigesetzt worden ist.

(Wolfgang Butt)

(25.2.2022)