Wir trauern um: Udo Rennert
„Ich habe einen Freund und Weggefährten, nein: einen Wegweiser verloren.“ An Udo Rennert, 4. Oktober 1938 bis 25. Januar 2021. Eine Erinnerung. Von Klaus Binder.
Udo Rennert, unser Übersetzerkollege, ist gestorben. Ich habe einen Freund und Weggefährten, nein: einen Wegweiser verloren. Denn er war es, der mich zum Übersetzen gebracht hat, mit praktischer Ermutigung, mit ersten kleinen Aufgaben aus seinen Projekten, damals saß er an der dreibändigen Geschichte der russischen Revolution von Richard Pipes. Er wusste auch, wo Büroraum frei war: in der Mainzer Landstraße in Frankfurt, dem Büro, in dem er selbst gearbeitet hat, in dem ich dann Ilse Strasmann kennen lernte, auch sie eine Wegweiserin – eine kaum zu überschätzende Hilfe für den Übersetzer-Anfänger. So fand ich mich 1991 an dem Schreibtisch wieder, an dem zuvor Traugott König gearbeitet hatte, unter anderem an Sartres Der Idiot der Familie; kennengelernt habe ich ihn leider nur als Leser, er ist 1992 gestorben. Es war ein Schreibtisch mit grün-schwarz leuchtendem Bildschirm und einem Rechner, der mit Floppy Discs gestartet und gefüttert werden musste.
Meine Freundschaft und Zusammenarbeit mit Udo datieren aber noch weiter zurück, bis ins Jahr 1978. Gemeinsam haben wir als Ko-Tutoren Kurse geleitet, ein Angebot des Frankfurter Seminars für Politik an berufstätige Männer und Frauen, die auf dem „dritten Bildungsweg“ durch eine externe Prüfung ihren „Hochschulzugang“ erwerben wollten. Unsere Kurse, das Curriculum, an dem wir mitarbeiteten, diente der Vorbereitung: Erste Schritte hin zu selbstständigem „wissenschaftlichen Arbeiten“, sprich Ermutigung durch Abbau von Schreibhindernissen; aus Literatur, Geschichte ab 1789, Gesellschaftswissenschaften, Politik stammten die Themen, allgemeine Bildung hieß das. Doch es ging lebendig zu, befeuert von den unterschiedlichen Temperamenten bei grundsätzlich gleichen Interessenlagen der beiden Tutoren. Nicht nur die Teilnehmerinnen des Kurses, auch wir haben viel gelernt in dieser Zeit, wir von ihnen wie voneinander – die Basis unserer Freundschaft und gegenseitigen Wertschätzung. Alle in diesen Kursen, mich eingeschlossen, erlebten in Udo einen äußerst empathischen Zuhörer, dem Rat nie teuer war.
1984 dann trennten sich zunächst unsere Wege, ich ging als Lektor zu Luchterhand. Und Udo, der mit dem Übersetzen bereits angefangen hatte, baute seine Tätigkeit aus, legte die Grundlage zu seiner so weitgespannten Übersetzertätigkeit. Beide aber blieben wir am Stoff unserer Interessen, trafen uns mit Kollegen zu regelmäßigen Diskussionsabenden, die Udo organisierte, an denen regelmäßig auch Reinhard Kaiser teilnahm. Da fand Udo auch Gelegenheit, uns immer wieder stolz die Früchte seiner Sammelleidenschaft zu präsentieren: alte Bücher, wunderschöne Ausgaben! Dieses Teilen von Erfahrungen, das sich gemeinsam Freuen-Können, da war Udo in seinem Element, das gehörte zu ihm.
So wie das Helfen-Können, seine Solidarität. Als mein Gastspiel im Luchterhand Literaturverlag 1991 endete, auf durchaus unschöne Art, da war Udo, inzwischen zum gefragten Sachbuchübersetzer avanciert, zur Stelle, richtete mich auf, gab mir zu tun, stiftete Kontakte. Und, wie gesagt, vermittelte den „Arbeitsplatz“. Er selbst lebte damals schon in Wiesbaden, war zu Hanne Neufeldt und ihrer Familie gezogen, die er in seinem unnachahmlichen Witz (in der alten Wortbedeutung) seine „Beutefamilie“ nannte. Aber er war regelmäßig in Frankfurt, gehörte zum Frankfurter Übersetzerstammtisch. Wie er seine Tätigkeit auffasste, dokumentiert nicht zuletzt die 1995 in Der Übersetzer erschienene Liste seiner Erkundungen im Handgemenge mit der Sprache, dem Ringen um genauen Ausdruck: „Wortbedeutungen/Synonyme, die nicht im Kleinen Muret-Sanders stehen“, der Schatz seiner Erfahrungen. Er hat ihn geteilt.
Als Übersetzer beackerten wir das gleiche Feld, Geschichte und Zeitgeschichte, tauschten uns aus, wenn es Probleme gab, Literatur zu finden war, wobei die fragende Rolle wohl eher bei mir lag, denn als ich anfing, Bücher zu Drittem Reich und Holocaust zu übersetzen, da lagen seine Übersetzungen, so das dreibändige Werk von Richard J. Evans, Das Dritte Reich, längst vor. Überhaupt stehen viele „Hauptwerke“ der Zeitgeschichte mit Mehrfachauflagen in seiner Titelliste verzeichnet, und so spuckt die Deutsche Nationalbibliothek, gibt man Udo Rennert ein, 216 Einträge aus. Der Blick in diese Liste lohnt, auf ein name-dropping verzichte ich hier. Nur so viel, und fokussiert auf die vielen Seitenpfade zu den Schwergewichten der historischen Forschung und Aufklärung: ganz früh (1978) Weizenbaums Macht der Computer, Ohnmacht der Vernunft, dann ein Reader zum Thema Das geschlagene Kind, dann wieder eine Studie zu den Abgründen der Liebe, eine Reise ins Innere der Dinge, Tipps zum einfachen Möbelbauen, eine Reise auch in Unergründliche Tiefen, die Besichtigung der Normalen Katastrophen (Risiken der Großtechnik), die Biographie eines Geheimagenten (Kim Philby) oder Die wahre Geschichte vom Leben und grausamen Ende des berühmten Revolverhelden … Billy the Kid. Und so weiter. Mit David Blackbourns Die Eroberung der Natur, einer Geschichte unter anderem der Rheinbegradigung und ihrer Folgen, findet Udo 2008 zu seinem ursprünglichen Metier zurück: Er war studierter Wasserbauingenieur. – So weit kann’s einer bringen mit Neugierde, stiller Beharrlichkeit und geistesgegenwärtiger Akribie. Dazu sein Witz und seine Bescheidenheit – Udo wird mir fehlen.
Klaus Binder, im Februar 2021