Jörg Scherzer, 1945–2019

„Mag sein, daß Genever, leicht verdünnt mit Schmelzwasser aus einem senkrecht abfallenden Gebirgsbach, mit einem Zusatz von weichgekauten jungen Steineichenblättern und geröstetem Kardamom, in der Dämmerung, genau dann, wenn die Autotür hinter dem letzten Lachen zuschlägt, getrunken – na ja –“

So liest sich die Eröffnung von Stig Dagermans Insel der Verdammten aus dem Jahr 1946 in der Übersetzung von Jörg Scherzer, ein Satz, auf den er durchaus stolz war. Überaus erfolgreich übersetzte Jörg, dessen Professionalität es verlangte, daß er morgens stets das Pensum des Vortags wiederlas und gleich redigierte, u.a. für die Verlage Suhrkamp und Ammann die von ihm geliebten Gentlemen von Klas Östergren, Moorkönigs Tochter von Birgitta Trotzig oder Die Autisten von Stig Larsson. Von dem genannten Dagerman ebenfalls die klassische Nachkriegsreportage Deutscher Herbst, die in der Bibliothek Suhrkamp erschien. Später auch Bücher aus dem Norwegischen: Der Titanic-Roman Choral am Ende der Reise des jungen Erik Fosnes Hansen wurde 1995 in Jörgs Übersetzung ein Bestseller; es zeugt von der Achtung für seine Übersetzer, daß Fosnes Hansen auf der Frankfurter Buchmesse 2019, auf der Norwegen Ehrengast war, nicht nur seinen jetzigen Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel erwähnte, sondern auch seines ersten gedachte. Aus dem Dänischen übersetzte Jörg Sven Aage Madsen, Jens-Martin Eriksen, Solvej Balle oder Hans Christian Andersen. Sein größter Verkaufserfolg war vermutlich Long John Silver des Schweden Björn Larsson, das Buch ist immer noch lieferbar.

Jörg wurde am 21. Januar 1945, in einer schweren Zeit, im fränkischen Hof geboren. Einige Wochen später fiel der Vater, auch der ältere Bruder starb während des Krieges an Kinderlähmung. So wuchs er allein bei der Mutter und den Großmüttern auf. Dergleichen war damals kein Einzelschicksal, aber prägend und belastend war es allemal. Jörg fing schon mit 15 an, Schwedisch zu lernen, eine Sprache und Kultur, die ihn nie mehr loslassen sollte. Das Abitur machte er in einer externen Prüfung und um Geld zu verdienen, arbeitete er als Schlafwagenschaffner, das hat ihn auch nicht mehr losgelassen, davon konnte er in seiner etwas grummeligen Art immer wieder erzählen.

In den 70er Jahren studierte er in Frankfurt am Main u.a. bei Klaus von See Skandinavistik und Geschichte, wo er auch die spätere Kollegin Angelika Gundlach kennenlernte. Mit ihr war er sein Leben lang befreundet, und mit ihr übersetzte und betreute er zeitweise auch die große Strindberg-Ausgabe bei Suhrkamp (die aus unterschiedlichen Gründen leider nie abgeschlossen wurde). Jörg war einer der eher raren Kollegen mit Doktortitel, das Thema seiner Dissertation Ende der Siebziger war absolut zeitgemäß: „Der proletarische Bildungsroman in der schwedischen Literatur“. In Schweden lernte er auch die Kunsterzieherin Ursula Müller kennen, die dann die Mutter der geliebten Tochter Laura wurde. Laura wiederum hat vom Vater das Faible für die Literatur geerbt, sie ist Literaturwissenschaftlerin geworden und hat u.a. in der Presseabteilung von KiWi und DuMont gearbeitet.

Seit den achtziger Jahren lebte Jörg in Berlin, die letzten zwanzig Jahre seines Lebens im Haus des legendären Kneipenrestaurants Max und Moritz in der Oranienstraße in Kreuzberg. Jörg hat nicht immer postwendend reagiert, wenn man ihm eine Mail schrieb, aber geantwortet hat er schließlich immer. Per Telefon konnten wir oft die eine oder andere Übersetzungsfrage klären. Er war ein wenig melancholisch, aber ist das nicht eher eine Kulturform als eine Krankheit, romantisch, ein nachdenkliches Innehalten, ein In-sich-Hineinhorchen? Und wenn es doch eine Krankheit ist, dann ist es die der Intellektuellen.

Seine letzte Buch-Übersetzung war 2017 Die Anatomie der Ungleichheit des schwedischen Mathematikers und Beraters Per Molander. In den letzten Jahren übersetzte er aber überwiegend für die Zeitschrift „Lettre International“, deren deutscher Herausgeber Frank Berberich uns schrieb: „Ich mochte Jörg sehr, wir hatten eine zwar fast nur aus Anlaß von gelegentlichen Übersetzungen aktive, aber sehr herzliche Beziehung. Er schien mir in seinen Übersetzungen hervorragend, sogar brillant, humorvoll, konziliant, manchmal knurrig, aber zumeist brauchte man nicht lange, um ihn zu guter Laune zu verführen. Kurz, ein liebenswerter Mensch.“

Jörg Scherzer war im übrigen ein echtes Sonntagskind, er ist an einem Sonntag geboren und an einem Sonntag gestorben, dem 18. August 2019, an den Folgen eines Herzinfarktes und diverser Operationen nach langem Krankenhausaufenthalt in Berlin – seltsamerweise am selben Tag wie Angelika Gundlach, mit der er ein Leben lang verbunden war. „Das Dunkel des Waldes und die Stille lagen in dem Bild … Ich sah es wieder vor mir, in meiner Seele stiegen Ideen auf. Im Nu bewegten sich alle diese Bilder, für die ich nun die doppelte Zeit benötigte, wollte ich sie mit Worten vorstellen. Ich griff ein paar Akkorde, und aus dem Gedanken wurde Rede, aus Rede wogende Verse, ich schilderte den tiefen, vom Wald eingeschlossenen See, den Felsen, der sich hoch zum Himmel erhob.“ Das sind die Worte eines anderen Melancholikers, Hans Christian Andersens. Doch nein, natürlich sind es die Worte von Jörg Scherzer, sie stehen nämlich in Jörgs deutscher Fassung von Andersens Roman Der Improvisator. Auch auf diese Sätze hätte er stolz sein können.
 

Klaus-Jürgen Liedtke ist Schriftsteller und Übersetzer aus dem Schwedischen und Dänischen u.a. von Gunnar Ekelöf, Göran Sonnevi, Carl-Henning Wijkmark und Søren Ulrik Thomsen. Er erhielt u.a. den Übersetzerpreis der Schwedischen Akademie und den Paul-Celan-Preis.

Peter Urban-Halle ist Literaturkritiker und Übersetzer vorwiegend aus dem Dänischen u.a. von Georg Brandes, Sophus Claussen, Peter Høeg, Per Højholt und Josefine Klougart. Er erhielt zuletzt den Dänischen Übersetzerpreis.


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