Gunhild Kübler wurde am 11. März 1944 in Karlsruhe geboren. Sie studierte Germanistik und Anglistik in Heidelberg und Berlin, und in Zürich, wo sie fortan lebte. Als Literaturkritikerin schrieb sie Beiträge für die Neue Zürcher Zeitung und die Bücherbeilage der NZZ am Sonntag. Eine Weile war sie Literaturredakteurin bei „Weltwoche“ und betreute das literarische Supplement. Mehrere Jahre lang gehörte sie zu der Kritikerrunde des „Literaturclubs“ beim Schweizer Fernsehen. Von ihren Kollegen wurde sie für ihren scharfen Verstand und ihre Schlagfertigkeit geschätzt.

Zum Übersetzen kam Gunhild Kübler, als ihr Ende der neunziger Jahre ein Reclam-Band mit Gedichten von Emily Dickinson in deutscher Übersetzung in die Hände fiel. Das Erlebnis veränderte ihr Leben. Sie war von den Gedichten elektrisiert, jedoch von der Qualität der Übersetzung nicht überzeugt, und so machte sie sich an die Mammutaufgabe, Emily Dickinsons lyrisches Gesamtwerk zu übersetzen, was eine Neuübersetzung der bereits übersetzten Gedichte einschloss.

Lange vor Fertigstellung der Übersetzung, nämlich schon 2008, verlieh die Heinrich-Maria-Ledig-Rowohlt Stiftung Gunhild Kübler für dieses Projekt den Paul-Scheerbart-Preis, der allein Lyrikübersetzungen vorbehalten ist. Vermutlich war der Preis als eine Ermutigung gedacht, ein Ansporn, das Vorhaben voranzutreiben. In seiner Laudatio beschreibt Klaus Reichert, Mitglied der Akademie für Sprache und Dichtung, Emily Dickinson als eine Autorin, die aufgrund der Rhythmik und des fragmentarisch Scheinenden ihrer Lyrik nahezu unübersetzbar sei. Ganze Landstriche des Verlorengegangenen könne man hinter ihren eigenwillig gesetzten Gedankenstrichen vermuten. Er pries Gunhild Kübler für die herkulische Arbeit, auf die sich eingelassen hatte, für ihre Wortfindungen und Bildschöpfungen.

Etliche Jahre später, nämlich 2015, erschien dann bei Hanser der Band Emily Dickinson, Gedichte. Neu übersetzt von Gunhild Kübler. Mit 1788 Gedichten und einem von der Übersetzerin verfassten Nachwort, das sowohl biografischer Essay als auch kritische Würdigung ist, hat Gunhild Kübler eine Großtat vollbracht. Ihr Nachwort beginnt so: „Am 15. Mai 1886 starb in Amherst, Massachusetts, im Alter von 55 Jahren eine zierliche Frau mit rotbraunem Haar.“ Am 20. November 2021 ist in Zürich Gunhild Kübler im Alter von 77 Jahren gestorben.

(19.1.2022)