Gerda Scheffels Übersetzerlaufbahn begann Mitte der 1950er Jahre - mit einem ungewöhnlichen Einstieg. Als ausgebildete Buchhändlerin hatte sie im Alter von etwa 25 Jahren beschlossen, französisch zu lernen und zu studieren und dann das Examen als staatlich geprüfte Dolmetscherin abgelegt. Mit ihrem Mann Helmut Scheffel verbrachte sie 1956 ein Studienjahr in Paris. Interessiert an den aktuellen Strömungen der französischen Literatur lernte das junge Paar bei einem Verlags-Jour fixe den Autor Michel Butor kennen. Sein Werk und das ungewohnt Neue daran faszinierte die beiden jungen Deutschen. Sie nahmen Kontakt zum französischen Verleger auf und dann zum deutschen Biederstein Verlag, der die Rechte gerade gekauft hatte. Sie bewarben sich darum, Butors Romane zu übersetzen und hatten Erfolg. Damit begann ihre gemeinsame Übersetzerlaufbahn.

Gerda Scheffel (Foto: Digne Meller Marcovicz)

Gerda Scheffel (Foto: Digne Meller Marcovicz)

„Allein die Tatsache, dass wir gut Französisch sprachen, begeisterungsfähig waren und gern übersetzen wollten – allerdings ohne die geringste Erfahrung, allein mit der festen Überzeugung, es gut zu machen – allein diese auf etwas tönernen Füßen stehenden Meriten genügten, um problemlos einige begehrte Kontakte zu knüpfen“ kommentierte Gerda Scheffel später diesen Einstieg.

Weitere Übersetzungen anderer Autoren des nouveau roman wie Robert Pinget, Jean Thibaudeau und Claude Simon folgten. Dabei waren Helmut und Gerda Scheffel in der Regel, was sie schon bei Michel Butor gewesen waren: die Vermittler junger französischer Literatur nach Deutschland. Für Autoren und Autorinnen, die sie in Paris kennengelernt hatten und für die sie sich begeisterten, versuchten sie mit Überzeugung und Nachdruck deutsche Verlage zu finden, um sie so mit ihren Übersetzungen dem deutschen Lesepublikum zugänglich zu machen.

Das gemeinsame Übersetzen seiner Eltern schildert Tobias Scheffel als ein dynamisches Arbeiten mit wechselnden Rollen am gemeinsamen Werk. Einer fing an, dann wurde energisch zusammen weitergearbeitet. Neben dem Schreibtisch stand ein Bänkchen, auf dem die beiden direkt nebeneinander die übersetzten Texte durchgingen. Oder einer von beiden übersetzte und der andere lektorierte. Später, als sie beide auch „ihre“ Autoren hatten, Helmut Scheffel etwa Michel Butor, Gerda Scheffel Marivaux, waren sie immer erste Leser der Übersetzung des anderen.

Die Anteile, die beide an gemeinsamen Übersetzungen hatten, zeigten sich in der Regel an den Urheberangaben im deutschen Titel. Zu einer Zeit, als auch im Kulturbetrieb stets der „Herr etwas voraus“ ging, legte Helmut Scheffel Wert darauf, den Anteil, den Gerda Scheffel an der Übersetzung hatte, in der Namensnennung sichtbar zu machen. „Anteil“ war dabei z.B. auch „von Anfang an den Ton zu treffen“.

1979 verlieh die Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung den Johann-Heinrich-Voß-Preis an Gerda und Helmut Scheffel. In seiner Laudatio sagte Traugott König: Der Preis „wird zum ersten Mal an ein Übersetzerpaar verliehen, und damit ist bereits ein Gütezeichen des preisgekrönten übersetzerischen Werkes angegeben: alle diese Übersetzungen − auch die, in denen Gerda und Helmut Scheffel nicht ausdrücklich beide genannt werden − sind das Ergebnis einer idealen Zusammenarbeit und kritischen Partnerschaft.“

Schon für ihr Dolmetscher-Examen 1956 hatte Gerda Scheffel das Französische Theater im 20. Jahrhundert als Fachgebiet gewählt. Nach frühen Übersetzungen von Hörspielen und Theaterstücken von Pinget stieß sie Mitte der 1970er Jahre auf Theaterstücke des in Deutschland wenig bekannten Marivaux. Sie, die natürlich die Originale las, war unmittelbar begeistert. Das schlechte Marivaux-Bild in Deutschland beruhte ihrer Meinung nach auf unzureichenden Übersetzungen. Was lag näher, als Marivaux neu zu übersetzen? Sie tat es, übersetzte 18 seiner Stücke, wie auch Essays und Prosaschriften. Sie gab Texte von Marivaux heraus, schrieb Nachworte und organisierte Lesungen. Und die Stücke wurden aufgeführt! Gerda Scheffel wurde zur gesuchten Gesprächspartnerin von Regisseuren und Dramaturgen und blieb in den Jahren danach noch lange die Marivaux-Expertin.

Die Qualität des Originals, erwähnt Tobias Scheffel, war ein wichtiges Kriterium für Gerda Scheffel. Nie hätte sie sich mit einem Text beschäftigt, der für sie das Übersetzen nicht lohnte. Wenn nötig hätte sie eher zurückgesteckt und bescheidener gelebt, als sich mit „Trivialem“ zu befassen. Und wenn sie Lohnendes übersetzte, dann hatte auch ihre Übersetzung qualitätvoll zu sein.

Ende der 1990erjahre beendete Gerda Scheffel, etwa 70-jährig, ihre Übersetzertätigkeit. Sie hatte insgesamt an die 60 Hörspiele und Theaterstücke und etwa 30 Prosawerke übersetzt und mitübersetzt, und wollte nun mehr Zeit für sich selbst haben, lesen und Literatur entdecken.

Aus dieser Zeit berichtet Renate Birkenhauer über ihre jährlichen Besuche während der Frankfurter Buchmesse bei Gerda Scheffel. Während Renate Birkenhauer die Messewoche über ihren Stand der Straelener Manuskripte betreute, hatte Gerda Scheffel sich von der Messe zurückgezogen. Jeweils am Buchmessen Mittwoch fand das Treffen im Hause Scheffel statt. Bei liebevoll vorbereiteten Schnittchen waren die Gespräche über Literatur und Übersetzen intensiv und gehaltvoll. In geschliffener Sprache äußerte die Gastgeberin in ihrem „leicht schwebenden“ Tonfall Geistreiches, bis der Gast noch eben die letzte Bahn zur Messeunterkunft schaffte.

In späteren Jahren wurden aus dem Treffen Telefongespräche, noch immer intensiv und anspruchsvoll. Dann kam ein Punkt, an dem Gerda Scheffel nicht mehr angerufen werden wollte. Hatte sie Sorgen, zum Gespräch nicht mehr genügend beitragen zu können? Ihr Anspruch an sich selbst war hoch, ihre konsequente Haltung unerschütterlich.

Ähnliches mag in ihr vorgegangen sein, als sie, die viele Jahre lang engagiertes Mitglied im Freundeskreis Literaturübersetzer war - u.a. als Mitglied der Wielandpreis-Jury -, vor einigen Jahren darum bat, sie aus dem Verteiler des Freundeskreisrundbriefs zu nehmen. Wir fanden diese Bitte entschieden, realistisch und klar, und interpretierten, dass ein passives Mitlaufen, ohne sich einbringen zu können, für Gerda Scheffel nicht in Frage kam.

Es ist schön zu wissen, dass Gerda Scheffel auch in ihren letzten Jahren, liebevoll betreut und versorgt, in der Wohnung bleiben konnte, in der sie fast sechzig Jahre gewohnt hatte, mit ihrer Familie und dann allein.

An ihr Ende denkend fällt mir der Text von Montaigne ein, den sie nach dem Tod ihres Mannes auf die Dankeskarte an diejenigen setzte, die seiner gedacht hatten:

Geht aus der Welt, sagt die Natur, wie ihr in sie eingetreten seid. Den nämlichen Weg, den ihr vom Tode zum Leben gingt, ohne Erregung und ohne Entsetzen, geht ihn nun wieder vom Leben zum Tode. Euer Tod ist ein Teil der Ordnung des Alls; er ist ein Teil des Lebens der Welt.

(Helga Pfetsch)

Eine ausführliche Darstellung von Leben und Werk von Gerda Scheffel und Helmut Scheffel findet sich im digitalen Germersheimer Übersetzerlexikon Uelex http://www.uelex.de/artiklar/Gerda_SCHEFFEL

Das Zitat von Gerda Scheffel entstammt ihrem Beitrag „Michel Butor/Helmut Scheffel – Der Autor und sein Übersetzer. Rückblick auf fünfzig Jahre Zusammenarbeit“ in Weiand Christof (Hg.): Les graphies du regard. Die Graphien des Blicks – Michel Butor und die Künste, Heidelberg 2013, Winter, S. 267-272

Traugott Königs Laudatio steht auf der Seite der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung https://www.deutscheakademie.de/de/auszeichnungen/johann-heinrich-voss-preis/gerda-scheffel/laudatio

(27.2.2022)