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Am 4. November 1999 saßen Frauke, Adelheid Witt (eine nahe Freundin Fraukes, auch sie leider schon lang verstorben), Liz Kuenzli, Claudia Steinitz und ich auf dem langen Weg von Bensberg, wo seinerzeit die alljährliche Tagung der literarischen Übersetzerinnen und Übersetzer stattfand, nach Berlin in einem dieser alten Intercity-Sechssitzerabteile, beflügelt und sicherlich ein wenig überdreht vom regen Kollegenaustausch, der uns, die wir damals noch ohne Kollegen- und Weltanschluss via Internet waren, für ein Wochenende aus der Alleinarbeit ins mehr als hundertköpfige Getümmel gezogen hatte. Irgendwann während der kölnberlinischen Sechs-Stunden-Strecke entschlossen sich Liz und Claudia – angestiftet insbesondere von Adelheid und Frauke –, einen Berliner Französisch-Stammtisch zu gründen, der bereits erstmals am 15. Dezember desselben Jahres tagte. Frauke war von Anfang an dabei.

Nachdem sie 2003 aus einer Wohnung in Schöneweide in eine Remise am Kleinen Wannsee gezogen war, lud sie den Stammtisch – inzwischen mächtig angewachsen und zum deutsch-französischen mutiert – regelmäßig zur Juni-Sitzung in ihren Garten ein. Auf dem Tisch standen ein Taboulé, knoblauchdurchtränktes Weißbrot, selbstgemachte Limonade und weitere von Frauke und anderen beigesteuerte Leckereien. Zwar wurde auch auf diesen Juni-Sitzungen durchaus wie immer an einem Text gearbeitet, doch die Abende waren vor allem ein wichtiges Element für den Zusammenhalt unserer Runde.
An diesen Abenden war Frauke der stille, von uns selbst gar nicht recht als solcher wahrgenommene Mittelpunkt. Wie sehr sie es war, haben wir an dem Tag, Mitte April, gemerkt, als wir von ihrem für uns alle völlig unerwarteten Tod erfuhren. Noch etwas anderes merkten wir erst da: Wir alle, ob wir zu den eher seltenen oder doch immerhin halbwegs regelmäßigen Stammtischgängern gehören, ob wir Frauke schon lange kannten oder nicht, ob wir jenseits unserer Treffen im Kontakt mit ihr standen oder nicht – wir alle wussten fast nichts von Fraukes Leben jenseits dessen, was die Übersetzung betraf, bestenfalls ein paar karge Fakten. Eine Kollegin schrieb noch am selben Tag:

Anne-Marie Geyer (Übersetzerin, Stammtisch-Mitglied)

Ach, wie gerne hätte ich mit Frauke über ihre Zeit in der DDR gesprochen. (Über ihre Arbeit als Lektorin bei Volk und Welt, darüber hat sie natürlich schon etwas erzählt.) Und wie gern hätte ich auch über ihre Zeit in Frankreich einiges erfahren! So viele Stunden haben wir im Zug nach Straelen und Looren gemeinsam verbracht, haben alles mögliche besprochen, dies aber nicht. Es stimmt mich traurig. Warum bloß hat Frauke davon nicht erzählt? Hätte ich mehr fragen sollen?

Hätten wir mehr fragen sollen? Aber hätte Frauke das gewollt?

Ich habe mich auf die Suche nach Menschen gemacht, die mir etwas über sie in der Zeit, bis wir sie kennenlernten, und auch darüber hinaus erzählen könnten. Alle Befragten sprachen von Fraukes Zurückhaltung, Diskretion, Bescheidenheit, Zuverlässigkeit, und es stellte sich heraus, dass auch sie fast ausnahmslos stets nur einen kleinen Ausschnitt aus Fraukes Leben kannten, zumeist ebenjenen, der sie durch eine jeweilige konkrete gemeinsame Betätigung mit ihr verband. Ich habe das mir schriftlich oder mündlich Erzählte montiert und um einige wenige Selbstäußerungen von Frauke angereichert, die sie im Rahmen zweier Interviews gemacht hat. Das eine ist abgedruckt in Simone Barcks und Siegfried Lokatis’ Buch Fenster zur Welt. Eine Geschichte des DDR-Verlags Volk und Welt (2003), das andere in Querbrief. Zeitschrift des Weltfriedensdiensts e.V. (2011). Vor der Onlinestellung des so entstandenen mehrstimmigen Nachrufs haben alle Beiträgerinnen und Beiträger den Text gegengelesen, ggf. Äußerungen von sich korrigiert, ergänzt, gekürzt.
Entstanden ist durch diese Mehrstimmigkeit letztlich ein Nachruf, der die Grenzen des Genres sprengt – ein Porträt, das von einem Berufsweg erzählt, der 1965 als Verlagslektorin und ein wenig auch bereits als Übersetzerin begann und mit der Wende, das heißt: durch die Wende noch einmal ganz neu entworfen werden musste. Dies zu einem Zeitpunkt, den neunziger Jahren, als die einsetzende Digitalisierung auch das altbundesrepublikanische Verlagswesen durcheinanderwirbelte und in manche Hysterie versetzte. Kein leichter Einstieg also in den neuen Beruf, doch Frauke zeichnete nicht nur Stille und Zurückhaltung aus, sondern auch ruhige Beharrlichkeit. Und so ist über die Jahre eine nicht unerkleckliche Liste von Autorinnen und Autoren zusammengekommen, denen sie eine deutsche Stimme gegeben hat.

Der gesamte Nachruf von Eveline Passet findet sich hier.

(21.7.2021)