„Warum man Shakespeare nicht übersetzen kann
und es trotzdem immer wieder tut“

Nachruf auf Frank Günther

 

Der ganze Shakespeare! Noch nie ist es in den 400 Jahren gelungen, dass ein Übersetzer alles … Und noch nie ist ein Übersetzer dem utopischen Ziel so nah gekommen wie Frank Günther. Gut vier Jahrzehnte lang hat er sich Shakespeare gewidmet, man könnte auch sagen: an Shakespeare abgemüht, hat sich hineingebuddelt in die Texte, sie erschlossen mit philologischer Akribie, sie eingebettet in ihre Zeit, hat für unzählige Redeweisen, angefangen von den Manierismen der Mächtigen und gezierten Liebesschwüren bis hin zum Gossenjargon, Wortschätze des Deutschen gehoben und sie Shakespeares Helden angepasst, hat gewitzelt und wortgespielt und, noch ein vertrackter Problemkreis: er hat den natürlichen deutschen Sprachfluss mit Shakespeares Versfluss in Einklang gebracht. Pro Theaterstück – mit allen Recherchen, Durchgängen, Fassungen, Abstandspausen, Endredaktionen – ein halbes Jahr Arbeit. Nicht zu vergessen die Probebühne am heimischen Schreibtisch, jede Rolle habe er sich selbst vorgespielt; im Interview sagte er einmal, er sei eine „vorzügliche Ophelia“.

Insgesamt 37 Stücke, die ein Theaterverlag (Hartmann & Stauffacher) für Aufführungen bereithält. Und nicht nur das. Frank Günther hat jedes einzelne Stück sorgfältig in Buchform ediert, dem englischen und deutschen Text jeweils einen Bericht aus der Übersetzerwerkstatt und Kommentare hinzugefügt, dazu den Essay eines Literaturwissenschaftlers; 37 Bände, edel ausgestattet bei ars vivendi, die meisten auch textgleich im Taschenbuch bei dtv. Zuletzt erschien Band 39 mit Shakespeares Verserzählungen, angekündigt ist für 2021 Band 38, die Sonette; noch im Krankenhaus hat Frank Günther daran gearbeitet. Verleger Norbert Treuheit schreibt in seinem Nachruf: „In seiner jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit dem Giganten William Shakespeare ist Frank Günther selbst zum Giganten geworden.“

Und jenseits von Shakespeare?

1947 geboren, ging Frank Günther nach einem Studium der Anglistik, Germanistik und Theaterwissenschaft zum Theater. Er war Regieassistent in Bochum und Stuttgart und beim Experimentiertheater Open-Space in London, danach fester Regisseur in Heidelberg, Bielefeld, Basel und Wiesbaden. Zwischendurch ein einjähriger Amerika-Aufenthalt on the road. Shakespeare zu übersetzen war nicht sein Ziel, schließlich sei er „nicht größenwahnsinnig“; der Vorschlag kam vom Theaterverlag, für den er dramatische Texte übertrug, vor allem aus der englischen Renaissance-Literatur. Als Synchronautor schuf er außerdem für über 70 Spielfilme die deutsche Fassung.

Mit der Zeit rückte Shakespeare ins Zentrum. Diesen Übersetzungen galten auch die Auszeichnungen, die Frank Günther zufielen: 2001 der Wieland-Preis, 2006 der Ledig-Rowohlt-Preis und 2011 der Johann-Heinrich-Voß-Preis. Die Liste wäre aber unvollständig ohne die allerfrüheste Ehrung. Als Zwölfjähriger siegte Frank Günther in einem Aufsatzwettbewerb zu Donald Duck, ausgeschrieben und wohl auch begutachtet von der legendären Comic-Übersetzerin Dr. Erika Fuchs.

Übersetzen als darstellende Kunst

Dass die Schauspielerei von allen Künsten der Übersetzerei noch am nächsten liegt, ist das Credo vieler Literaturübersetzer. Das mimetische Prinzip: ich spiele in meiner Sprache nach, was mir das Original vorspielt.

Frank Günther hat dieses Prinzip gelebt. Vor allem sprech- und spielbar sollte sein deutscher Shakespeare sein; bis in die feinsten Nuancen tarierte er die Sprache der Figuren aus, um das vielfältige Stimmenkonzert von Shakespeares Sprachkosmos auf Deutsch entsprechend zu gestalten. Dabei wurde er nicht müde, die Ab- und Umwege zu verteidigen, die eine Übersetzung gehen muss, um dem Original treu zu bleiben, speziell einem uns heute so fernen, fremden Werk aus elisabethanischen Zeiten. Nein, Frank Günther ist vor der „Herausforderung“ Shakespeare nicht „schreiend davongelaufen“, wie er die Schwierigkeiten einmal charakterisierte; im Gegenteil. Die Werkstattberichte des Übersetzers aus Shakespeares „Folterkammer“, denen er mit Vorliebe barocke Titel verpasste, reihen sich zu einer hohen Schule des Übersetzens. Nur ein Beispiel: In Band 10 der Gesamtausgabe („König Richard II.“) verhandelt er unter dem Titel „Der heimliche Leierkasten oder Von hinkenden Versfüßen, ramschigen Reimen, klappernden Jamben und weiteren sterbenslangweiligen Themen“ das Phänomen metrisch gebundener, gesprochener Sprache und entfaltet, szenisch und essayistisch, eine Hymne auf den Blankvers. Anlässlich der jüngsten Shakespeare-Jubiläen (2014 der 450. Geburtstag, 2016 der 400. Todestag) fasste er seine „Einblicke“ in die Welt seines Idols außerdem im Band „Unser Shakespeare“ (dtv) zusammen.

Aus dem Geist des Theaters hat Frank Günther nicht nur übersetzt. Mit Fug und Recht kann er als Erfinder der Übersetzer-Performance gelten.

Ort der Handlung: Stadthalle Biberach, Zeit der Handlung: Abend der Wieland-Preisverleihung am 27.9.2001. Der Ausgezeichnete hat ein „unterhaltsames Potpourri“ aus der Shakespeare-Zeit angekündigt. Zum Auftakt schwebt über der weit offenen schwarzen Bühne das Porträt des Elisabethaners. Und aus der Bühnentiefe kommt der Übersetzer, er stemmt einen Schubkarren, voll beladen mit Büchern, bis vor zur Rampe. Uff! Das, liebe Zuschauer, ist ein Teil der Bibliothek, die man braucht, um Shakespeare zu übersetzen …

Frank Günthers Übersetzer-Theater hat den Deutschen Übersetzerfonds in seinen Aufbaujahren begleitet. Als erster August-Wilhelm-von-Schlegel-Gastprofessor für Poetik der Übersetzung begann er 2007 seine Antrittsvorlesung mit einem Dialog zwischen AWS und FG, wobei er Schlegels Part zu über 90 Prozent aus Originalzitaten collagiert hatte. Beim ersten DÜF-Jubiläum amüsierte er das Publikum im Literarischen Colloquium mit diesem Sketch: Fünf verführerisch maskierte „Sirenen“ umgaben den zerquälten Shakespeare-Übersetzer und flöteten ihm Sätze seiner Vorgänger ins Ohr, aber nichts, rein gar nichts wollte passen …  

Nicht allein an Shakespeare entzündete sich Frank Günthers szenische Phantasie. Überaus vergnüglich war, für das Publikum wie für die Mitwirkenden, das „weltweit erste und einzige“ Übersetzer-Kabarett „Blackbox in Babylon“, das beim Übersetzertag 2004 im LCB aufgeführt wurde. Für Textvorlage, Regie, Hauptrolle und Bühnenbild verantwortlich – na, wer wohl. Eine reale Blackbox gab es auch, Frank Günther hatte eigenhändig ein Gestell gezimmert und bespannt und von seinem Bauernhof in Oberschwaben nach Berlin gekarrt. Also war er nicht nur ein Handwerker der Sprache. Das Kabarett gipfelte darin, dass in streng wissenschaftlichem Experiment der In- und Output einer übersetzenden Blackbox analysiert wurde; aber irgendwie wollte das nie klappen, wurde ein gestreiftes Buch eingegeben, kam bestimmt ein kariertes heraus, und zum Schluss explodierte das gesamte, tumb quasi-wissenschaftliche System.

Am 15. Oktober 2020 ist Frank Günther 73-jährig gestorben. Dabei schien seine Arbeits- und Lebensenergie unerschöpflich zu sein. Uns fehlt der stets hilfsbereite Kollege, der kluge und warmherzige, phantasiesprühende Mensch. Sein Lebenswerk wird Leser, Theatergänger und Übersetzer noch lange leiten und begleiten.

Rosemarie Tietze

 

 

(16.10.2020, Stand: 26.10.2020 – der Nachruf zum Download)