Wir trauern um: Barbara Köhler
„Man lässt sich was einfallen, bis es anfängt zu schweben.“ Zum Tod der Lyrikerin, Essayistin und Übersetzerin Barbara Köhler, ein Nachruf von Mirjam Bitter
Für die Sprachkünstlerin Barbara Köhler war Textarbeit immer auch Beziehungsarbeit, wovon wir Übersetzenden uns einiges abschauen können. Dabei ging es – wie für die meisten Schreibenden – zunächst einmal um die Beziehung als Autorin zur Sprache: „Ich rede mit der Sprache, manchmal antwortet sie./ Manchmal antwortet auch jemand anders“, heißt es im ersten Gedicht des Bandes Blue Box von 1995. Außerdem setzte sie ihre Texte in Beziehung zu Texten der Tradition, in ihrem Debütband Deutsches Roulette von 1991 etwa mit der Lyriktradition von Novalis und Hölderlin über Brecht hin zu Bachmann und Celan. Für Niemands Frau von 2007, „An Odyssey for Our Time“, wie es im Titel eines wissenschaftlichen Bandes dazu heißt, hatte sie sich sogar Griechisch „soweit draufgedrückt“, dass sie mithilfe eines Wörterbuchs mit dem Originaltext der Odyssee in Dialog treten konnte.
Auch ihr Gedicht an der Fassade der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin, mit dem das vieldiskutierte Gedicht „Avenidas“ von Eugen Gomringers überschrieben wurde, tritt formal und inhaltlich mit diesem Subtext in Beziehung, legt sich wie ein Palimpsest darüber. Wie schon frühere temporäre Texte im Raum, wenn Barbara Köhler beispielsweise auf eine Fensterscheibe im Düsseldorfer Landtag oder Häuserwände in der Schweiz schrieb, stellt ihr Text dabei zugleich eine Beziehung zu seinem Umfeld her, spricht die Vorbeigehenden direkt an. Auch ihre zwischen zwei Buchdeckel gedruckten Texte suchen jeweils den Dialog mit den Lesenden, weshalb der erste wissenschaftliche Sammelband zu ihren Texten den Titel Entgegenkommen (2000) trug. Darin gibt es unter anderem den Beitrag „The Challenge of Translation“, in dem Dichterin und Übersetzer:innen durch Übertragungen und Rückübertragungen ins Gespräch kommen.
Darüber hinaus experimentierte Barbara Köhler mit den Beziehungen der Wörter, ja der Buchstaben und Klänge untereinander und führte die Beziehung von Subjekten in der Sprache vor Augen. Dabei analysieren ihre Texte insbesondere, wie der ‚Vertrag‘ der Subjektivität funktioniert, wenn das Ich ihn als Frau erfährt, und eröffnen durch poetische Umordnung syntaktischer und sonstiger Verbindlichkeiten neue Wege, weiten die vermeintlichen Grenzen aus. Auf der Suche nach einem positiven Begriff von ‚Differenz‘ und der Möglichkeit „zu gewinnen ohne siegen zu müssen“, wie es in „Elektra. Spiegelungen VIII“ aus Deutsches Roulette heißt, ist immer mit mehr als einem Subjekt zu rechnen, mit Subjekten, die beweglich, aber nicht haltlos sind. „was/ wir annehmen als gültig & gleich/ aber anders hält uns in bewegung“, heißt es in ihrem deutsch-portugiesischen Band Cor responde von 1998, mit Übersetzungen von Maria Teresa Dias Furtado.
Ihr Interesse an Sprache, Dialog und Differenz brachte die Lyrikerin und Essayistin folgerichtig auch selbst zum Übersetzen und 2009 zum Erlanger Literaturpreis für Poesie als Übersetzung. Wie Barbara Köhler mir im Gespräch erzählte, war es 1987 eher Zufall, dass sie – die 1959 bei Amerika in Sachsen geborene Textilfacharbeiterin und von 1985–1988 Studentin am Institut für Literatur Johannes R. Becher in Leipzig – die Einladung zu einem Übersetzercamp in Ungarn bekam.
„Ich konnte zwar kein Wort ungarisch, aber ich dachte, da fahr ich mal hin. Ich habe dann stehenden Fußes angefangen, Ungarisch zu lernen. […] Das war eine Art Initiation, weil es wirklich eine Sprache ist, die komplett anders als alle anderen europäischen funktioniert, mal vom Finnischen abgesehen, obwohl die grammatisch auch unterschiedlich sind. Wo man über dieses völlige Befremden auf einmal auch aus dem Eigenen weit raus kommt und so einen schrägen Blick kriegt, wie Sachen funktionieren.“ (Barbara Köhler im Gespräch mit mir 2005)
Nach einer Erzählung von Zsuzsa Rakovszky, die mit der Uneindeutigkeit der Rollenverteilung spielt, da es im Ungarischen nur eine dritte Person gibt, diese also keine Genusmarkierung hat, übertrug Barbara Köhler später auch Texte aus dem Englischen (von Gertrude Stein und Elizabeth Bishop) sowie aus dem Französischen Samuel Becketts Band Mirlitonnades, der in ihrer Übersetzung von 2005 Trötentöne (nicht wie die vorherige Übersetzung Flötentöne) heißt.
Mit der Übertragung von Gertrude Steins Tender buttons, in Barbara Köhlers Übersetzung Zarte knöpft (2004), setzte sie sich nach eigener Aussage einer „Radikalkur“ aus. Während ihre eigenen Gedichte zwar stark mit Klang, Rhythmus und Schriftbild arbeiten, aber doch auch immer semantisch etwas mitteilen, stieß sie hier auf etwas,
„was sich der Semantik einfach sträubt. […] Man kann das nicht wirklich übersetzen, weil die Wörter auch schweben und differieren. Sie [Stein] hat ja so eine Lust an Tricks, dass man nie genau weiß, ist das jetzt ein Verb, ist das ein Substantiv, ist das ein Abstraktum. Und entweder man übersetzt es im Deutschen eindeutig, oder man lässt sich wirklich was einfallen, bis es anfängt zu schweben.“
Diese übersetzerische Beziehungsarbeit floss dann merklich in Barbara Köhlers Niemands Frau ein. So steht dort etwa im ersten Gesang, dem Musenanruf „MUSE : POLYTROP“:
[…] sei muse A
MUSED MUSE A AMUSED MUSE eine taktlose springende
stolpernd holpernde klingende & tanzende sprachen
wir du die gleiche mit der ich anders rede & muse
[…]
Es ging ihr nicht nur um eine „klingende & tanzende“ Sprache, sondern im Plural um „sprachen“, die durch das „wir“ im nächsten Vers zu einem beweglichen Verb mutieren. Durch das Englische ist neben dem Deutschen im Text selbst eine weitere Sprache präsent und zudem ein Verweis auf Gertrude Steins „Rose is a rose is a rose is a rose“, wozu Barbara Köhler in Zarte knöpft anmerkte: „‚Rosa ist eine fensterrosette ist auf tauchte ist eine brause ist eine rose‘ – auch so deutet eine englische rose ins deutsche: in mehr als eine richtung“. Analog lässt sich auch ihr Musenanruf in mehr als eine Richtung deuten, etwa als ‚eine zur Muse gemachte Muse, eine amüsierte Muse‘ oder als ‚eine ergrübelte Muse, ein amüsiertes Sinnieren‘, ‚a/müsierte Muse, eine entmuste Muse‘.
Das Schweben, zu dem Köhler den Wörtern verhelfen wollte, wird im 17. Gesang „PENELOPE IM SCHNEE“ im Bild des Schnees eingefangen, welches – ambivalent zwischen Ende der Bewegung und bewegter Zustandsänderung – auch die Thematik des Todes aufruft:
[…]
es ist schnee. Es ist ein fall der keiner ist
die welt ein schweben als wär schwerkraft was
zart was zögerliches […]
[…] lichte leichte kalte bleiche flockenworte
die alles zudecken: ein leichentuch und wärmt
Am 8. Januar 2021 ist Barbara Köhler nach langer Krankheit mit nur 61 Jahren viel zu früh verstorben. Obwohl ich ihr nur zweimal persönlich begegnet bin, geht mir ihr Tod sehr nahe. Denn auch außerhalb ihrer Texte war sie entgegenkommend, ließ sich auf die Menschen um sie herum als „gültig & gleich/ aber anders“ ein und hatte sichtliche Freude an der Differenz. So hieß sie mich als kleine Studentin 2005 trotz himmelweitem Abstand an Lebenserfahrung und theoretischer Durchdringung der Themen, die ihre Gedichte beackern, in ihrer Duisburger Küche willkommen, sprach auf Augenhöhe mit mir über ihre Texte, nahm mich mit auf einen Spaziergang am Fluss und bekochte mich anschließend noch mit Spargel und jungen Kartoffeln. Und auch 2011 bei einem Symposium in Oxford, das ganz ihrem Band Niemands Frau gewidmet war, hörte sie sich zwei Tage lang die wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit ihren Texten persönlich an, um gemeinsam über all die Gedanken darin ins Gespräch zu kommen. Diese offene, zugewandte, menschliche Anwesenheit werden wir vermissen. Zum Glück für uns hat sie ein so polytropes, vielgestaltiges Werk hinterlassen, mit dem wir durch Text- und Trauerarbeit weiter in Beziehung treten können. Bei Suhrkamp lieferbar ist derzeit leider nur Deutsches Roulette, für die anderen Bände lohnt in jedem Fall ein Gang in die Bibliotheken!
Mirjam Bitter ist Literaturübersetzerin aus dem Italienischen und hat sich als Literaturwissenschaftlerin mit Barbara Köhlers Texten beschäftigt.
PS: Marie-Luise Knotts Nachruf auf „die Großmeisterin“ Barbara Köhler erschien im Kulturmagazin perlentaucher.de, und Laudatio von Benedikt Ledebus Laudatio auf die Preisträgerin des Erlanger Literaturpreises für Poesie als Übersetzung (2009 zusammen mit Ulf Stolterfoth) ist beim 29. Poetenfest nachzulesen (PDF).
(13.1.2021, aktualisiert: 28.1.2021)